Blick.ch: Eine für Alle – Wikipedia wird 20

Uncategorized January 10, 2021

  Der ganze Artikel ist auf blick.ch verfügbar. 

«Auch Schweizer Firmen versuchen, Einträge zu löschen»

Wikipedia feiert nächste Woche seinen 20. Geburtstag. Muriel Staub (34) leitet den Schweizer Ableger von Wikimedia. Im Interview spricht sie über besserwisserische Männer, eitle Politiker und die Untervertretung von Frauen in der Online-Enzyklopädie.

Wissen ist Macht. Wer hat die Macht bei Wikipedia?
In unserer Idealvorstellung herrscht bei Wikipedia die Macht der vielen. Also alle, die sich an diesem Projekt beteiligen.

Und in der Realität?
Wir kommen unserem Ideal nahe: Jeder und jede kann bei Wikipedia mitmachen. Aber über die Jahre haben sich gewisse Qualitätsregeln etabliert, zum Beispiel, dass die Artikel wirklich gut mit Quellen belegt sein sollten. Das macht die Teilnahme bei Wikipedia manchmal etwas komplizierter, und es braucht ein gewisses technisches Wissen.

Konzerne und staatliche Organisationen versuchen immer wieder, Einträge zu löschen oder zu schönen. Auch in der Schweiz?
Natürlich, auch Schweizer Firmen versuchen das. Aber es fliegt meistens sehr schnell auf. Gerade Anfang Dezember hat ein Schweizer Politiker versucht, ein für ihn unschönes Detail über seine Abwahl aus seinem Beitrag zu löschen.

Transparenz, bitte!
(Lacht.) Das bringt niemandem was, wenn ich den Namen nenne. Wichtig ist: Darauf entbrannte eine Diskussion darüber, ob diese Information relevant ist oder nicht. Resultat: Das Detail steht nun wieder im Artikel.

Wie kann man solche Einflussnahmen verhindern?
Wir haben die Antwort darauf bereits: radikale Transparenz. Man kann bei Wikipedia immer nachvollziehen, wer zu welchem Zeitpunkt was an einem Artikel geschrieben hat. Das ist und bleibt revolutionär. Die Algorithmen grosser Tech-Firmen sind das genaue Gegenteil davon: total intransparent.

Sie gehören zu einer Generation, die mit Wikipedia aufgewachsen ist. Was ist die grösste Veränderung der letzten 20 Jahre?
Die Dimensionen heute übertreffen alles, was ich je erwartet hatte. Heute gibt es über 2,5 Millionen deutsche Wikipedia-Einträge. Als ich vor zehn Jahren damit begann, Beiträge zu verfassen, war das noch ganz anders. Es gab viel mehr Lücken – und Wikipedia wurde belächelt.

In der Schule durfte man Wikipedia nicht für Vorträge nutzen!
Das hat mich damals enorm gestört. Man hat dazu geraten, von Wikipedia die Finger zu lassen – statt sich zum Beispiel damit auseinanderzusetzen, welche Hilfsmittel es gibt, um die Qualität von Einträgen zu beurteilen.

Welchen Wikipedia-Eintrag haben Sie sich zuletzt angeschaut?
Jenen über die Schriftstellerin Simone de Beauvoir.

Wieso?
Weil ich mit jemandem darüber debattiert habe, ob sie mit Sartre oder mit Camus liiert war.

Und?
Mit Sartre. Mit Camus hatte sie zwar auch Kontakt, aber nicht in dieser Form.

Was interessiert Schweizer am meisten auf Wikipedia?
Diese Daten erheben wir nicht.

Wieso?
Das ist tatsächlich eine Einzigartigkeit: Wir wahren die Privatsphäre unserer Leserinnen und Leser. Was wir wissen, ist, welche Artikel im deutschsprachigen Raum derzeit sehr gesucht sind. Das ist oft auch ein Spiegel dessen, was in der Welt passiert. Populär ist heute z.B. der Eintrag vom Kapitol der Vereinigten Staaten.

Kann man etwas sagen über die Schweizer Wikipedia-Autoren? Wer sind diese Menschen?
Auch diese erfassen wir nicht systematisch. Man kann anonym bei Wikipedia mitschreiben. Wir wissen jedoch, dass in der deutschsprachigen Wikipedia in den letzten 30 Tagen 18’739 Menschen mitgemacht haben. Aus der Erfahrung heraus waren darunter etwa 2000 Schweizerinnen und Schweizer, und da mit dabei sind ungefähr 200 sehr aktive.

Ein wichtiges Thema ist für Sie auch die Repräsentanz von Frauen auf Wikipedia. Sie haben schon fünf sogenannte Editathons organisiert, eine Veranstaltung, bei der Autorinnen und Autoren zusammen neue Einträge über Frauen in der Schweiz verfassen. Bringt das wirklich was, mal abgesehen von Aufmerksamkeit?
Ja klar! Über 250 Frauen und Männer haben über 350 neue Artikel über Frauen aus der Öffentlichkeit geschrieben. Wissenschaftlerinnen, Sängerinnen, Sportlerinnen und so weiter. Wenn Sie Siri fragen: «Wer ist Gabriela Suter?», dann antwortet diese jetzt: «Gabriela Suter ist eine Schweizer Politikerin. Sie ist Präsidentin der SP Aargau und Nationalrätin.» Dank Wikipedia!

Fakt ist aber auch, dass 88 Prozent der deutschsprachigen Autoren von Wikipedia Männer sind.
Diese Zahlen basieren auf Umfragen und sind relativ alt. 

Das ändert nichts daran, dass Wikipedia der perfekte Tummelplatz für Männer ist, die gerne etwas besser wissen.
Das kann man so sehen. Aber ich bin in erster Linie enorm dankbar für all die Menschen, die täglich diese Arbeit auf sich nehmen. Ehrenamtlich. Aber es ist klar, dass Wikipedia noch besser werden wird, wenn mehr Menschen unterschiedlichster Altersgruppen, Herkunft, Geschlechter, Hautfarbe und Religionen sich daran beteiligen.

Wieso ist das so wichtig?
Schauen Sie sich mal einen Eintrag in unterschiedlichen Sprachen an. Zum Beispiel zum Thema Homöopathie. Da finden Sie auf Französisch ganz andere Quellen als auf Deutsch. Diese unterschiedlichen Perspektiven sind wichtig. Und deshalb ist es zentral, dass sich Menschen aus allen Regionen der Welt an Wikipedia beteiligen.

Derzeit gibt es immer noch unverhältnismässig viele Autoren aus Europa und Nordamerika.
Das zu ändern, ist ein grosses Ziel von Wikipedia, sonst tragen wir gewisse Verzerrungen in die nächste Ära der künstlichen Intelligenz, und das wäre fatal.