Tagesanzeiger: Kopf des Tages

Blog, Wikipedia December 11, 2019

Text von Anke Fossgreen, Tagesanzeiger

Die Internetexpertin Muriel Staub animiert Frauen, über ihre Geschlechtsgenossinnen Artikel für die Online-Enzyklopädie zu schreiben.

Wikipedia hat kürzlich 90 neue Einträge hinzubekommen. Das Besondere: Es sind alles Biografien über Frauen. Das weibliche Geschlecht sei nämlich massiv untervertreten in der Online-Enzyklopädie, findet Muriel Staub. Das Vorstandsmitglied beim Verein Wikimedia Schweiz nennt Zahlen, die für sich sprechen: Von den fast 743’000 Biografien auf den deutschsprachigen Wikipedia-Seiten sind nicht einmal 16 Prozent den Frauen gewidmet. 

Von den fast 743’000 Biografien auf den deutschsprachigen Wikipedia-Seiten sind nicht einmal 16 Prozent den Frauen gewidmet. 

Zusammen mit den beiden Journalistinnen Patrizia Laeri und Katia Murmann hat Staub deshalb die Initiative «Frauen für Wikipedia» ins Leben gerufen. «Das Ziel ist nicht nur, dass mehr weibliche Inhalte auf den Wikipedia-Internetseiten landen, sondern auch, dass mehr Frauen mitmachen, die entsprechenden Artikel zu schreiben», sagt Staub. Deshalb haben die Initiantinnen bisher drei Veranstaltungen organisiert, die sie «Edit-a-thon» nennen. Dort gibt Staub angehenden Autorinnen Tipps, wie sie Wikipedia-Artikel erstellen.

«Aha-Erlebnis» mit Iris Bohnet

Bisher sind es etwa 90 Prozent Männer, die Wikipedia-Beiträge verfassen. «Das führt zu Verzerrungen bei den Inhalten», sagt Staub. Schliesslich ist Wikipedia nach zwei Google-Seiten, Facebook und Youtube die am fünfthäufigsten angeklickte Internetseite in der Schweiz.

Von den fast 743’000 Biografien auf den deutschsprachigen Wikipedia-Seiten sind nicht einmal 16 Prozent den Frauen gewidmet.

Staub stört sich schon lange daran, dass Frauen unterrepräsentiert sind. Ihr «Aha-Erlebnis» war, als sie vor zwei Jahren feststellte, dass Iris Bohnet keinen Wikipedia-Eintrag hatte. Bohnet ist die erste Schweizerin, die ordentliche Professorin an der renommierten Harvard-Universität wurde. Staub griff schnell in die Tasten.

Mit der Online-Enzyklopädie verbunden ist die Solothurnerin, seit sie vor sieben Jahren an der Hochschule St. Gallen ihre Masterarbeit über Wikipedia verfasste. Wenig später arbeitete Staub hauptberuflich für den Verein Wikimedia Schweiz. Als «zweite Mitarbeiterin» war sie quasi von Anfang an dabei. Heute ist sie als einzige Frau neben fünf weiteren Vorstandsmitgliedern ehrenamtlich für Wikipedia tätig.

«Das grösste von Menschen erschaffene Projekt»

Die 32-Jährige schwärmt von den Chancen des Internets. Auch ihr jetziger Job bei der gemeinnützigen Organisation Avaaz.org nutzt dieses Potenzial. Das Kampagnen-Netzwerk ermöglicht Bürgergruppen und Privatpersonen die Möglichkeit, Petitionen zu lancieren, um politische Entscheide zu beeinflussen. Auch von Wikipedia ist Staub nach wie vor fasziniert, als «das grösste Projekt, das je von Menschen erschaffen wurde», sagt sie.

Da passieren auch Fehler. So wurde im letzten Jahr der Wikipedia-Eintrag von Donna Strickland gelöscht, kurz bevor die Physikerin den Nobelpreis erhielt. Sie sei nicht relevant genug, fanden die Autoren. Staub kann das erklären: «Zuvor waren fast keine Artikel in den Medien über die Forscherin erschienen.» Wikipedia habe strenge Relevanz-Kriterien.

Übrigens hat Muriel Staub selbst keinen eigenen Wikipedia-Eintrag – anders als die beiden Mitinitiantinnen von «Frauen für Wikipedia» Katia Murmann und Patrizia Laeri. «Ich erfülle die strengen Anforderungen nicht», lacht sie. «Noch nicht!»

Erstellt: 29.11.2019, 09:20 Uhr